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Wie kommt das Ei in die Schale?

„Papa“, sagte Leonie und tunkte ein Stück Toast in ihr Ei, „wer macht eigentlich das Ei ins Ei?“

Ich sah sie an, dann das Frühstücksei, dann wieder sie.

„Was meinst du genau, mein Schatz?“

„Na, wie das Eigelb da reinkommt. Und das Weiße. Und wer das da so schön zumacht mit der Schale.“

Sie klopfte mit dem Löffel auf ihr Ei, als wolle sie klären, ob jemand drin sei.

Ich blinzelte.

Mein Kaffee hatte noch nicht mal angefangen zu wirken, aber ihr Gehirn war offenbar bereits bei interstellarem Frühstücksdenken angekommen.

„Das macht das Huhn“, sagte ich, ohne weiter drüber nachzudenken.

„Das Huhn? Echt jetzt?“

Leonie verzog das Gesicht wie jemand, der einen besonders schlecht verpackten Zaubertrick entlarvt hatte.

„Ja, also… das Ei entsteht im Huhn. Innen drin. Da wächst es und wird… komplett.“

Sie sah mich an, als hätte ich gerade versucht, einen Regenbogen mit einem Taschenrechner zu erklären.

„Und woher weiß das Huhn, wie rum es das macht? Also: Dass erst das Ei innen fertig sein muss und dann die Schale drumrum kommt? Das ist doch wie ein Überraschungsei – nur in schlau.“

Ich schwieg. Aus Respekt.

Denn sie hatte recht.

Eigentlich war das alles vollkommen absurd.

Ich versuchte, wissenschaftlich zu klingen.

„Im Huhn gibt es verschiedene Kammern, weißt du. Erst kommt das Eigelb, dann das Eiweiß, und ganz zum Schluss bildet sich außenrum die Schale.“

„Das klingt aber, als würde das Ei sich selber einpacken.“

„Naja, das Huhn hilft natürlich. Also… sein Körper.“

„Aha. Und wenn das Huhn müde ist – dann macht’s einfach keine Schale?“

Ich überlegte kurz und sagte dann das, was Eltern sagen, wenn sie nicht mehr wissen, wo vorne und hinten ist:

„Das passiert selten.“

Leonie kaute eine Weile nachdenklich. Dann sagte sie, ohne mich anzusehen:

„Ich glaube, das Huhn macht gar nichts. Ich glaube, das Ei will da einfach rein. Also in die Schale.“

Ich hob eine Augenbraue.

„Das Ei will das?“

„Na klar! Wenn ich Eigelb wär, würde ich auch nicht einfach so rumschwappen wollen. Ich würde mich ganz schnell irgendwo verstecken, damit mich keiner löffelt.“

„Also“, begann Leonie, während sie mit dem Löffel kleine Krater in ihre Eierschale schlug, „ich glaube, das Huhn ist eigentlich nur das Haus. So wie unser Kühlschrank.“

Ich brauchte einen Moment.

„Wie meinst du das?“

„Na, der Kühlschrank macht ja auch nicht die Milch. Er bewahrt sie nur auf. So ist das Huhn. Ein Ei-Kühlschrank. Ein Ei-Haus. Das Ei kommt da rein, lebt da kurz, dann kriegt’s ne Schale und fliegt raus.“

„Fliegt raus…“

„Also plopp – hinten raus halt.“

Ich atmete durch. Das Gespräch war an einem Punkt angelangt, den man als Erwachsener nicht plant, aber respektieren muss. Leonie wirkte dabei völlig unbeeindruckt, wie eine Zoologin in Gummistiefeln, die gerade eine sensationelle Entdeckung gemacht hat – und sie nur noch aufschreiben muss.

„Und weißt du was ich glaube?“ fuhr sie fort, „ich glaube, es gibt zwei Arten von Eiern.“

Ich seufzte. Ich wusste, was jetzt kam.

„Die einen sind Frühaufsteher. Die freuen sich auf ihre Schale. Die springen direkt rein und rufen: ‘Packt mich ein!’“

Sie wedelte mit ihrem Löffel über dem Frühstücksteller.

„Und die anderen?“

„Die wollen raus. Die träumen von Freiheit, Sonne und vielleicht einem eigenen Huhn. Aber die Schale ist schon da, also müssen sie warten. Und dann werden sie gekocht.“

Ich war still. Es war das erste Mal, dass mir das Frühstücksei philosophisch leidtat.

„Papa?“

„Ja?“

„Wenn ich später ein Huhn bin, dann will ich meine Eier mit Fenstern machen.“

„Fenstern?“

„Damit man rausgucken kann, bevor man gekocht wird.“

Ich trank meinen Kaffee leer, während Leonie ihr Ei zu Ende löffelte, als wäre es eine Erkenntnis.

Und ich dachte:

Vielleicht ist es gar nicht wichtig, wie das Ei in die Schale kommt.

Sondern warum wir überhaupt glauben, dass es da rein muss.

Es war Samstagmorgen. Das Licht fiel durch das Fenster wie eine vergessene Notiz, und in der Küche roch es nach leicht angebranntem Toast und Träumen, die zu lange gebraten wurden.

Leonie stand mit verschränkten Armen vor der Pfanne.

Darin ein Ei.

Ein Spiegelei.

Mit traurigem Dotterblick.

„Papa“, sagte sie mit dem Ton einer kleinen Revolutionsführerin, „dieses Ei wollte nicht gegessen werden.“

Ich trat näher.

„Das sagen die meisten Eier nicht laut.“

„Doch. Dieses schon. Ich hab’s gemerkt. Es ist geplatzt, als ich’s aufgeschlagen habe. Und das war kein Zufall.“

Ich schaute in die Pfanne. Das Ei lag da, wie ein zerquetschtes Gemälde – das Eigelb leicht zerflossen, das Eiweiß in wirren Wellen erstarrt. Es sah wirklich… wütend aus.

Oder enttäuscht.

Oder beides.

„Es wollte frei sein“, flüsterte Leonie.

„Es wollte nicht in der Schale bleiben. Und auch nicht in der Pfanne. Vielleicht wollte es fliegen.“

Ich setzte mich hin.

Nicht aus Erschöpfung, sondern weil ich spürte: Hier beginnt ein Moment, den man nicht im Stehen erlebt.

„Vielleicht war das Ei ein Rebell“, sagte ich.

„Eins von denen, die nicht in Schachteln passen. Die sich nicht etikettieren lassen. Die gegen die Frühstücksordnung kämpfen.“

„Oder“, sagte Leonie, „es war ein Künstler. Und ich hab’s zerstört.“

„Vielleicht warst du sein Publikum. Und es hat sich dir hingegeben.“

Sie sah mich an. Ernst.

„Ich glaube, manche Eier kommen nicht in die Schale, Papa. Manche Eier werden Ideen. Oder Geschichten.“

Ich nickte.

Nicht, weil ich alles verstand. Sondern, weil ich wusste, dass sie etwas verstanden hatte, das ich nie erklären könnte.

Dann stand sie auf, nahm ein Blatt Papier und malte ein Ei.

Mit Flügeln.

Und einer kleinen Sonnenbrille.

Darunter schrieb sie:

„Frei sein heißt: auch mal auslaufen dürfen.“

Epilog:

Das rebellische Spiegelei wurde nicht gegessen.

Es wurde feierlich beerdigt. In einer Brotdose. Unter einem Stück Käsetoast.

Und seitdem fragen wir uns beim Frühstück nicht mehr, wie das Ei in die Schale kommt.

Sondern, ob es vielleicht schon wieder raus will.

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Published inMöglichkeitsrauschen

2 Comments

  1. Ich muss schon sagen … deine kleine philosophische Geschichte gefällt mir ausgesprochen gut. Schön geschrieben, macht Lust auf mehr.

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