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Das Paradox der vollen To-do-Liste

Drei Listenpunkten und ein Gedankenstau.

1. Kapitel – Die Erschaffung

Montagmorgen, 7:42 Uhr.

Ich wache auf mit dem unerschütterlichen Willen, diese Woche mein Leben zu ändern.

„Heute wird alles anders“, murmle ich und setze mich auf – leicht schief, wie ein Denkmal, das noch nicht weiß, ob es gestürzt oder verehrt wird.

Noch vor dem ersten Kaffee öffne ich mein Notizbuch – frisch, weiß, voller Potenzial – und beginne zu schreiben:

– Newsletter planen

– Blogpost veröffentlichen

– Sinn des Lebens googeln

– Balkon aufräumen

– Roman anfangen

– Roman beenden

– …

Die Liste wächst.

Ich fühle mich lebendig. Wichtig.

Organisiert.

Fast so, als hätte ich etwas erledigt – obwohl ich bisher nur Dinge aufgeschrieben habe, die ich erledigen will.

Und das reicht erstmal.

Ich gönne mir eine Pause.


2. Kapitel – Die Eskalation

Dienstag, 10:04 Uhr.

Ich öffne die To-do-Liste. Sie starrt mich an wie eine Rechnung, von der ich weiß, dass sie recht hat.

Ich lese, überfliege, sortiere nach Wichtigkeit. Dann nach Dringlichkeit. Dann nach emotionalem Widerstand. Dann nach Farbe.

Als Nächstes bastle ich ein Ampelsystem mit Post-its.

Dann eine alternative Version der Liste auf dem Handy.

Dann ein Backup in der Cloud. Man weiß ja nie.

Zwischendurch google ich:

„Effektiv arbeiten trotz Überforderung durch eigene Struktur.“

Ich finde eine Podcastfolge darüber.

Höre sie beim Kaffee.

Und schreibe danach auf die To-do-Liste:

– „Podcast reflektieren“

Ich habe immer noch nichts getan – aber ich bin beschäftigt.

Fokussiert.

Fast professionell überfordert.


3. Kapitel – Die Erkenntnis

Donnerstag, 15:27 Uhr.

Ich habe exakt nichts von der Liste abgehakt.

Aber ich habe eine neue Liste erstellt:

To-dos, die ich vielleicht niemals angehen werde, aber die gut aussehen.

Das Paradoxe daran:

Je mehr ich plane, desto weniger tue ich.

Je mehr ich denke, desto weniger bewege ich.

Und je länger ich Listen schreibe, desto mehr habe ich das Gefühl, etwas getan zu haben.

Vielleicht liegt darin das Geheimnis:

Nicht das Tun an sich beruhigt – sondern die Illusion, es zu wollen.

Das Leben als strukturiertes Vielleicht.


Epilog

Freitagabend.

Ich mache mir eine neue Liste.

Ganz oben steht:

– „Liste nicht zu ernst nehmen.“

Ich hake es ab.

Und fühle mich endlich produktiv.

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