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Das Buch der Gefallen – Leseprobe

Kapitel 1 - Der Wald

Langsam schleppt er sich durch den Wald. Jeder Schritt fühlt sich an, als würde er durch zähen
Morast waten. Seine Beine sind schwer, sein Kopf dröhnt, und die Kälte frisst sich durch seine
Kleidung. Er taumelt, stolpert fast, aber zwingt sich weiter. Er muss weiter. Warum, weiß er
nicht.
Er hebt den Blick, sucht nach der Sonne, um sich zu orientieren. Norden. Er weiß, wo es
langgeht – aber nicht, warum. Er wirft einen Blick auf sein Handgelenk. Eine schlichte, analoge
Uhr. Ihre Zeiger bewegen sich unaufhaltsam weiter, als wäre alles in Ordnung. Doch nichts ist in
Ordnung.
Mit letzter Kraft lehnt er sich gegen einen mächtigen, knorrigen Baum. Sein Körper sackt
zusammen, sein Kopf fällt nach hinten gegen die raue Rinde. Er schließt die Augen. Nur einen
Moment ausruhen. Doch statt Erleichterung überkommt ihn eine Welle aus Verzweiflung.
Er weiß nicht, warum.
Er öffnet die Augen, tastet hastig seine Taschen ab – leer. Kein Ausweis. Kein Handy. Kein Geld.
Nichts.
Sein Blick schweift durch die dichten Bäume. Die Welt ist still, abgesehen von seinem eigenen,
keuchenden Atem. Dann bleibt sein Blick an etwas hängen. Etwas Fremdes, inmitten der Natur.
In etwa hundertfünfzig Metern steht eine Hütte. Holz, schiefes Dach, ein Fenster, das im
Zwielicht schwach schimmert.
Hoffnung regt sich in ihm – nur für einen Moment. Dann kommt der Schmerz.
Ein scharfes, brutales Stechen reißt durch seinen rechten Oberschenkel. Er geht instinktiv in die
Knie, eine Hand schießt zu der schmerzenden Stelle. Als er sie hebt, sieht er das Blut. Dunkelrot
glänzt es auf seiner Handfläche. Es dampft in der eisigen Luft.
Ein Zittern durchläuft ihn. Er ist verletzt.
Doch es ist zu kalt, um lange nachzudenken. Sein Blick geht zurück zur Hütte. Dahin muss er. Er
zwingt sich hoch, beugt sich leicht vor, um nicht aufzufallen, und kämpft sich durch den Schnee.
Jeder Schritt ist eine Qual.
Zwanzig Meter vor der Hütte geht er in Deckung. Er kann nicht einfach reinstolpern. Er weiß
nicht, wem sie gehört, ob jemand drin ist, ob er willkommen ist. Er kauert sich hinter einen
kahlen Busch, sein Atem dampft vor ihm in der Luft.
Seine Stirn sinkt in seine Hände. Er atmet tief ein, doch es bringt nichts.
Er weiß nicht, wer er ist.
Er weiß nicht, was er hier macht.
Und das macht ihm mehr Angst als alles andere.
Nach einer guten halben Stunde hat er keine Bewegung im oder um das Haus festgestellt. Es
scheint verlassen, still, fast zu friedlich für das Chaos in seinem Kopf. Doch er traut dem Frieden
nicht. Sein Instinkt warnt ihn, schreit förmlich danach, vorsichtig zu bleiben, sich nicht
blindlings in Gefahr zu begeben. Aber der Schmerz in seinem Bein wird stärker. Ein dumpfes
Pochen, das mit jedem Pulsschlag schlimmer wird, als würde etwas in ihm gegen seine Haut
drücken, brechen, reißen.
Er presst die Lippen aufeinander, versucht, sich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Doch
sein Körper fühlt sich an, als wäre er nicht ganz echt, nicht ganz seiner. Seine Muskeln brennen,
seine Knie zittern. Er ist erschöpft, ausgezehrt bis ins Mark. Sein Magen fühlt sich leer an, ein
Loch, das durch die Kälte nur noch größer wird.
Aber all das ist nichts gegen das Loch in seinem Kopf.
Er weiß nicht, warum er hier ist. Er weiß nicht, was passiert ist. Er weiß nicht einmal, ob er in
Gefahr ist oder nicht. Vielleicht gehört ihm das Haus. Vielleicht erwartet ihn jemand. Vielleicht
wird er erschossen, sobald er sich nähert.
Diese Ungewissheit frisst ihn auf.
Sein Blick bleibt an der Tür hängen. Was, wenn er gleich eine Erinnerung hat? Was, wenn er
nichts fühlt? Was, wenn es schlimmer ist – was, wenn er hineingeht und sich trotzdem fremd
vorkommt?
Er unterdrückt das Zittern in seinen Fingern, zwingt sich, weiterzugehen. Langsam, Schritt für
Schritt, lehnt er sich gegen die Außenwand des Hauses. Das Holz ist rau unter seinen
Fingerspitzen, kalt und spröde. Er lehnt die Stirn dagegen, schließt die Augen für einen Moment.
Nur einen Moment.
Sein Atem ist flach, er zwingt sich zur Ruhe. Dann hebt er den Kopf, lauscht. Stille. Er wagt es,
sich zu bewegen, rutscht langsam zur Tür.
Seine Hand zittert, als er sie auf die Türklinke legt.
Minutenlang verharrt er so und versucht mit all seinen Sinnen, irgendwelche Informationen zu
sammeln. Er hört in die Stille hinein, lauscht auf jedes noch so kleine Geräusch, versucht,
Vibrationen im Boden zu spüren, irgendetwas, das darauf hindeutet, dass er nicht allein ist. Doch
da ist nichts. Nur das leise Knacken der Äste im Wind und sein eigener, viel zu lauter Atem.
Langsam öffnet er die Tür, noch in der Hocke. Ein leises Knarren dringt in die Stille, und für
einen Moment hält er den Atem an. Doch nichts passiert. Keine Bewegung. Keine Reaktion.
Alles ist still.
Keiner da.
V orsichtig krabbelt er hinein, bleibt einen Moment auf allen Vieren und blickt sich um. Die Hütte
ist klein, kaum mehr als ein einzelner Raum. Das Holz der Wände ist alt und rissig, das Dach
leicht verzogen, sodass sich in einer Ecke eine dünne Schicht Schnee durch einen Spalt gedrückt
hat. Es riecht nach altem Holz, Staub und Kälte. Ein Ofen steht an der Wand, von Rost zerfressen
und seit Monaten nicht mehr benutzt. Daneben ein kleiner Tisch, von dem der Lack in Fetzen
abblättert. Zwei Stühle, ein Regal mit ein paar Büchern, deren Seiten von Feuchtigkeit wellig
geworden sind.

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  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
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  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
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2 Comments

  1. Karen Radig Karen Radig

    Sehr spannende Story, die Schwere der Last, die er getragen hat, konnte ich körperlich spüren. Und dann der Schluss – absolute Sprachlosigkeit. Hammer!

  2. Horst Horst

    Ich muss gestehen, das atmen fiel mir schwer. Ich hätte auch mit einem anderem Ende gerechnet.

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